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In der Ruinaulta vom 11. November 2022 hat Magdalena Ceak ein Interview mit Othmar F. Arnold publiziert. Das Thema war “was gutes Leben im Alter bedeutet und warum wir Menschen mit dem Älterwerden so hadern”:

Die Lebenserwartung der Menschen steigt. Viele Seniorinnen und Senioren geniessen die Zeit nach dem Ruhestand, sind aktiv, pflegen ihre Hobbys und haben ein grosses Netz sozialer Kontakte. Das hat auch die Wissenschaft erkannt und definiert den Begriff des Alterns fortlaufend neu. In internationalen Studien wird bewiesen, dass Menschen die Gesundheit als wichtigstes Gut für ein wünschenswertes Leben sehen. Die nächste Priorität sind die Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit. In diesem Sinne ist sowohl Frauen als auch Männern die geistige und seelische Gesundheit ebenso wichtig wie die körperliche Gesundheit. Nun stellt sich aber folgende Frage: Wie definiert man heute das gute Altern, sprich was ist ein gutes Leben im Alter? Othmar F. Arnold, Vorstand des Vereins Tenna Hospiz, der sich um die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngemeinschaft «Alte Sennerei» in Tenna seit August 2021 kümmert, versucht diese Frage zu beantworten.

Herr Arnold, Sie sind Pflegeexperte mit Erfahrung in ambulanter Pflege und Palliative Care. Zudem arbeiten und wohnen Sie seit über einem Jahr mit den Bewohnerinnen und Bewohner des Tenna Hospiz zusammen. Was bedeutet ein gutes Leben im Alter?

Othmar F. Arnold: In meinem Berufsalltag stelle ich immer wieder fest, dass das Bedürfnis der älteren Menschen nicht darin liegt, ewig jung bleiben zu wollen. Viel mehr wollen sie sich aufgehoben fühlen – mit allen körperlichen und gesundheitlichen Herausforderungen, die im Alter auf sie zukommen. Das grösste Anliegen beziehungsweise die grösste Sorge der älteren Menschen – egal, in welchem Setting sie sich befinden – ist die Einsamkeit. Es liegt in unserer Natur, dass wir ab dem Zeitpunkt unserer Geburt, nicht alleine seine wollen. Uns aber auch nicht alleine gelassen fühlen wollen. Verschiedene Studien belegen, dass gerade im Alter 80 Prozent der Beschwerden von der Vereinsamung kommen. Sprich, wenn ältere Menschen nicht mehr aktiv an der Gesellschaft beteiligt sind, wenn sie Partnerin oder ihren Partner verlieren. Oder wenn ein Mensch im besonders hohen Alter ist, dann hat er oft keine Freunde, weil viele oder sogar alle Freunde bereits verstorben sind. Auch die Tatsache, dass man nicht mehr so beweglich ist, nicht mehr gut sieht oder gut hört, kann ebenfalls zu dieser Vereinsamung führen. Natürlich sind das alles normale Erscheinungen im Alter. Der soziale Kontakt ist essenziell. Die Einsamkeit drückt nun einmal auf die Seele eines Menschen. Nehmen wir beispielsweise demente Menschen: Sie wollen sich nicht wie eine Patientin oder ein Patienten fühlen, sondern in erster Linie wie ein Mitmensch.

Sie reden jetzt vor allem davon, wie wichtig die sozialen Kontakte im Alter sind. Aber viele wissenschaftliche Studien belegen, dass auch die Selbstbestimmung von grosser Bedeutung ist?

Selbstverständlich sind auch die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wichtig. Auch im Alter wollen wir Menschen, dass man uns einen Rahmen bietet, in dem wir selbst sein können – mit allen Fähigkeiten, die wir mitbringen oder eben verloren haben. Das war übrigens auch die Ausgangslage, um das Konzept und Modell für das Tenna Hospiz zu entwickeln: Unser Verein Tenna Hospiz wollte und hat einen pflegegerechten Wohnraum für Menschen in ihrem letzten Abschnitt schaffen. Wir haben einen Wohnraum realisiert, in dem sich ältere Menschen aufgehoben fühlen und eine neue vertraute Umgebung schaffen können. In meinem Alltag mit den Bewohnerinnen und Bewohner sehe ich, dass sie mit dieser sozialen Aufmerksamkeit und dem Kontakt sehr zufrieden sind. Mir liegt es am Herzen, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner bis zum letzten Atemzug als Menschen wahrgenommen werden.

Und wie schafft es die Gesellschaft, dass sich Seniorinnen und Senioren aufgehoben fühlen?

In dem sie eine sinnstiftende Aufgabe sprich Beteiligung am Alltag haben. In unserer Wohngemeinschaft, in der wir die Bewohnerinnen und Bewohner täglich pflegen, uns um sie sorgen und mit ihnen zusammenleben, können diese sinnstiftenden Aufgaben beispielsweise freiwillige Ämtli sein: Hilfe beim Kochen,  das Geschirr abräumen oder den Abwasch erledigen – oft Tätigkeiten, die ihnen vertraut sind.

Wir Menschen wollen ein selbstbestimmtes Leben – sogar dann, wenn sich genau dies in unserem Alltag schwierig gestaltet oder wenn es gar nicht mehr geht.

Ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte über ein Bewohnerpärchen, das seit Herbst 2021 hier im Tenna Hospiz lebt: Sie haben ihr ganzes Leben im Safiental – genauer gesagt in Versam verbracht. Sie war Hausfrau und hat sich um die Erziehung der Kinder gekümmert. Er war Bauer. In den ersten Tag als sie in unsere Wohngemeinschaft gezogen sind, hat sie mich beim Abwaschen des Geschirrs beobachtet. Nach etwa drei Tagen kam sie in die Küche und meinte: «Das kann ich auch!» Seit dem hilft sie mir und trocknet das ganze Geschirr und Besteck. Da sie sich in der WG-Küche nicht auskannte, bat sie mich alles an den richtigen Ort zu versorgen. Ihr Ehemann hat uns während den ersten 14 Tagen auch nur beobachtet. Irgendwann kam er dazu und meinte: «Das kann ich auch!» Seit dem sortiert er das Geschirr, Besteck und die Gläser in die Küchenschränke. Was ist da genau passiert? Sie haben sich freiwillig ein Ämtli gesucht. Während sie in der Küche helfen, sind sie mobilisiert. Je nach Arbeitsvorgang müssen sie sich bücken oder strecken, sie laufen hin und her. Ausserdem wird so auch das Gedächtnis trainiert.

Ämtli in der WG – jedeR hilft nach seinen/ihren Fähigkeiten

So bekommen die Bewohner das Gefühl, dass Sie noch im Alltag gebraucht werden.

Wenn Menschen im hohen Alter das gewohnte Umfeld verlassen müssen, weil es Zuhause nicht mehr alleine geht, kommt es zu einem radikalen Schnitt. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie in ein Spital, ein Heim, in eine Alterswohnung oder wie bei uns in ein Hospiz gehen. Andreas Kruse, Gerontolge aus Heidelberg, hat in einer Forschung herausgefunden, dass es älteren Menschen auch wichtig ist, den jüngeren Generationen etwas mit auf den Weg zu geben. Schliesslich haben sie ein Leben lang Erfahrungen gesammelt und wollen ihr Wissen sowie Lebenserfahrung weitergeben. Jeder Mensch will bis zu seinem letzten Lebensmoment einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Das ist etwas, das unsere Seele braucht. Ein Mensch, der nicht für die Allgemeinheit etwas leisten kann, fühlt sich hilf- und nutzlos.

Ein Leben in Würde bedeutet also nicht nur aufgehoben zu sein, sondern sich auch nützlich zu fühlen?

Ja, die selbstbestimmte Beteiligung ist ein bedeutender Teil im Leben eines Menschen. Es ist nicht würdevoll, wenn ein Mensch zu etwas gezwungen wird. Ich muss aber auch sagen, dass Menschen im Alter auch mal nichts tun sollten. Denn es gibt Menschen, die lebenssatt sind. Diese Menschen finden, dass sie genug Aufgaben in ihrem Leben erledigt haben und einfach sein wollen. Deshalb gibt es im Tenna Hospiz auch kein zwingendes Freizeit- und Aktivitätenprogramm.

Das Älterwerden gehört zum Leben. Aber warum hadern wir Menschen mit dieser Tatsachen?

Aus meiner Beobachtung und Erfahrung ist hier vor allem das Thema Loslassen bedeutend. Das Alter ist oft mit Verlust verbunden. Menschen haben oft auch Probleme damit, zu akzeptieren, dass im Alter immer mehr körperliche Beschwerden eintreten. Hier braucht es eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Älterwerden. Dann wird man das Altern nicht mehr als Verlust, sondern als Veränderung betrachten. Diese Auseinandersetzung mit dem Altern ist in meinen Augen eine relativ moderne Erscheinung. Früher haben sich die Menschen beispielsweise im Safiental keine Gedanken über das Älterwerden gemacht. Sie sind einfach alt geworden.

Auf dem Photo erhält Gian Pedretti von Othmar F. Arnold einen Haarschnitt, den er sich erwirkt hat als Voraussetzung für ein Pressebild. Lies die dazugehörige Geschichte hier nach: Pressestimme zur WG auf Zeit