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Gut begleitet leben, gut betreut sterben: Wie das im abgeschiedenen Safiental gelingen kann, will das Tenna Hospiz mit seiner ungewöhnlichen Wohngemeinschaft Alte Sennerei zeigen. Ein Sozialprojekt mit Modellcharakter.

Jano Felice Pajarola – (2024-02-10_Buendner_Zeitung_Seite_11)

Abraham Buchli sitzt am grossen Tisch im Café, den sie auch Sozialraum nennen, lächelt, schaut versonnen vor sich hin. Grüsst den Besucher, lächelt weiter. Die Morgensonne, es ist neun Uhr, wärmt schon den Raum, sie scheint früh hier oben, wo der Blick weit übers Safiental geht. Sie bringt die weisse Kirche zum Leuchten, ihr Turm wirft den einzigen Schatten, den das Tenna Hospiz winters um diese Tageszeit ertragen muss. «Isch der no nit wach?», fragt Abraham, er beäugt das Gedeck am Kopfende des Tisches, wo das Morgenessen für seinen Mitbewohner Gian parat ist, Gian Pedretti, 97 Jahre alt und damit noch 15 Jahre älter als Abraham. «Hüt bisch du halt scho früah», meint Marianne Campa, die Allrounderin aus Bonaduz, die zwei Tage pro Woche das Sozialraum-Café bewirtschaftet. «Die anderen haben länger, das dauert ein wenig, bis die parat sind.» Abraham nickt, schmunzelt. Seine Frau Ursula ist ja auch noch oben in der kleinen Wohnung, schläft. 81 ist sie schon, aber nach wie vor eine Nachteule, kein früher Vogel wie er.

Alle beginnen den Tag nach ihrem eigenen Rhythmus in der Wohngemeinschaft Alte Sennerei im Tenna Hospiz, auf dessen Strickfassade der geschnitzte Hausspruch zu lesen ist, der so prägend ist für dieses Sozialprojekt im abgeschiedenen Tal: «Würdig läbä, da sii und Ziit ha füranand.» 2021 eröffnet, will das Hospiz ein alternatives Betreuungs- und Pflegeangebot im Berggebiet sein, das den Staat nicht zusätzlich finanziell belastet, wie Othmar F. Arnold es formuliert, Initiant und Koordinator der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft. Wo einst die Milch der Tenner Landwirte verarbeitet wurde, steht heute ein Neubau mit sechs Wohneinheiten für Menschen im letzten Lebensabschnitt, zwei Pflegezimmern für Sterbebegleitung oder Entlastungsaufenthalte, einem Raum für Angehörige und eben dem Café, diesem Angelpunkt zwischen der Welt draussen und der Welt drinnen. Angelpunkt vor allem dann, wenn sich diese beiden Welten für jemanden nicht mehr so mischen können wie bisher. Weil der Körper nicht mehr mag, der Geist nicht mehr kann, die Erinnerung nicht mehr so recht will. Oder weil die Flamme langsam erlischt, die so lange gebrannt hat.

Bei Abraham und Ursula flackert sie noch lustig vor sich hin, die Flamme, mag auch das Gedächtnis ab und zu etwas nachlassen. Das einstige Landwirtepaar aus Versam ist schon seit der Eröffnung im Hospiz, «wir haben uns gesagt, unser Sohn ist der Bauer, der braucht das Haus», erzählt Abraham. Also ausziehen – aber wohin? Sie hätten sich Heime angeschaut, in Thusis, in Landquart, begeistert seien sie nicht gewesen, nein. «Da hat Ursula gesagt, also, ich gehe nach Tenna. Und ich fand, ja, da komme ich mit, das ist für mich in Ordnung.» Früher, im eigenen Heim, hätten sie immer mal wieder «chiflet»; das Alltägliche klappte nicht mehr so, wie man es gewohnt gewesen war. «Hier ist es eine Erleichterung», sagt Abraham. Lächelt. «Und der Austausch ist schön. Mit den anderen, die hier leben, mit den Gästen im Café. Und Othmar macht es wirklich gut.»

Othmar: Er, der ausgebildete Pfleger, ist die Seele des Projekts, die Konstante im Hospiz. Wacht jemand nachts mit einer Angstattacke auf, ist er derjenige, der sich hinsetzt, einen Apfel aufschneidet, einen Tee kocht, redet, bis sich die Lage beruhigt. Ohne chemische Medikamentenkeule, ohne notfallmässige Abklärung in der psychiatrischen Klinik. «Letztes Jahr», meint Othmar – man ist im Haus per du –, «konnten wir durch unser Pflegemodell sechs kostenintensive Hospitalisierungen vermeiden. Das ist wohl der grösste wirtschaftliche Effekt unseres Modells.» 

Menschen im letzten Lebensabschnitt im Safiental einen hindernisfreien Ort bieten, an dem sie in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können, wenn es daheim nicht mehr geht: das ist das Ziel des Projekts. Und die 24-Stunden-Betreuung reicht bis zur ausserklinischen Intensivpflege, zur Palliativpflege, zur Sterbebegleitung, wenn es so weit ist. Auf Wunsch auch im Sozialraum, dort, wo das gewohnte Leben weitergeht. «Das mag manchmal improvisiert erscheinen», erklärt Othmar. «Aber es geschieht professionell, evidenzbasiert und sehr menschennah. Und die technischen Errungenschaften, die es gelegentlich braucht, stehen im Haus oder über ambulante Dienste zur Verfügung.»

Inzwischen sitzt auch Gian im Sozialraum-Café, Marianne räumt sein Morgenessen ab, er geht zum Tisch mit den Zeitungen am Fenster, beginnt zu lesen, während sich draussen auf der Terrasse eine Gruppe Tourenskifahrer von Aufstieg und Abfahrt erholt. Eine beliebte Route führt gleich neben dem Hospiz bergwärts, was gerade an den Wochenenden für ziemlich viel Betrieb sorgen kann. Gian, der renommierte Künstler, ist letzten April nach Tenna gekommen, damals noch gemeinsam mit seiner Frau Erica Pedretti, der Schriftstellerin. Sie starb drei Monate nach dem Einzug, unerwartet, ein schwerer Schlag. Eigentlich hätte es für die beiden ja eine Rückkehr ins Engadin werden sollen, nach Jahrzehnten im Welschen. Doch das Dorf Samedan, wie sie es 1947 verlassen hatten, gab es nicht mehr. «Alles war anders», sagt Gian rebellisch. »Die Atmosphäre war absurd. Es hat einfach nicht gestimmt für uns.» 

Letztlich fanden sie den Weg ins Safiental, nach Tenna. »Wir waren noch keine 24 Stunden hier, da wurden wir auf der Strasse schon von Leuten angesprochen, ob wir die Neuen seien.» Das, findet er, sei ein bisschen gewesen wie früher im Engadin, der Kontakt untereinander, das Eingebettetsein in eine Gemeinschaft. Was im Fall von Tenna bedeuten kann: Man hilft dem betagten Künstler auch mal zurück ins Hospiz, wenn er sich, mit Skizzierbrett, Papier und Bleistift bewaffnet, auf einem Spaziergang zu weit fortbegeben hat und den Heimweg alleine nicht mehr schafft.

Das Dorf hilft mit, aber natürlich nicht nur das Dorf. «Das Modell der Wohngemeinschaft beruht auf einem Zusammenspiel von bezahlter und freiwilliger Care-Arbeit», erklärt Othmar. Ein Trägerverein, Angestellte im Stundenlohn, pflegende Angehörige, er als Koordinator und Allrounder, das sind wesentliche Rädchen im System. «Aber es braucht auch die gegenseitige Unterstützung der Mitbewohnenden in der Pflege-WG, um den Alltag zu bewältigen.» Es braucht jemanden wie Marianne, die Othmar an zwei Tagen pro Woche entlastet. Vor allem aber bräuchte es wieder eine «Sorgende Mitbewohnende», wie Othmar die Funktion bezeichnet. Eine befähigte Person, die für ein Grundeinkommen bereit ist, im Hospiz mitzuleben und mitzuwirken. Wie jemand, der einen Haushalt führt. Eine Aufgabe, die schon seit geraumer Zeit neu zu besetzen wäre. Dass es bislang nicht gelungen ist, hat Folgen – obwohl eine Alterswohnung und ein Pflegebett frei wären, musste Othmar trotz grosser Nachfrage einen Aufnahmestopp verhängen. Das Gleichgewicht zwischen Mitbewohnenden, die Unterstützung leisten, und Mitbewohnenden, die Unterstützung brauchen, wäre sonst nicht mehr gegeben. 

Im Café ist es wieder ruhiger, die Terrasse hat sich geleert, Gian ist in die Lektüre vertieft, in der Küche steht Christian «Christli» Messmer neben Marianne, der 83-Jährige frühere Schreiner aus Tenna hilft ihr beim Rüsten des Mittagessens für die Wohngemeinschaft. Auch Christli lebt im Hospiz, seit er merken musste, dass es zu Hause nicht mehr geht, dass er alles vergisst. Ein Risiko, gerade für jemanden, der gerne am Kochherd steht, fand auch sein Arzt. Vor einem Jahr war das. «Hier klappt es jetzt viel besser», sagt Christli, «ich habe weniger Sorgen und bin auch wieder besser zwäg. Nun helfe ich einfach mit, wo es geht.» Sein altes Zuhause hat er endgültig verlassen.

Othmar ist überzeugt: Das Modell der ganzheitlichen Fürsorge zum Sozialtarif, das man im Hospiz vorlebt, funktioniert, auch wirtschaftlich gesehen. Die bisherigen Zahlen sprechen für sich. «In einem Umfeld von Gesundheitsversorgung und Politik, in dem vor allem Probleme, Defizite, Fehlanreize, mangelnde Mittel, ungenügende Entschädigungen und schlechte Arbeitsbedingungen beklagt werden, sind wir ein kleiner Leuchtturm. Es gibt Alternativen. Wir leben sie.»

Der morgendliche Schatten des Kirchturms ist verschwunden, es ist Mittag, Punkt 12.15 Uhr, Essenszeit. Christli bringt die Suppe an den Tisch, jetzt sind sie alle da, der lächelnde Abraham, die ausgeschlafene Ursula, der rebellische Gian und er. Vier Menschen, 343 Jahre Lebenserfahrung, eine Wohngemeinschaft. Und viele, die mithelfen. Der Abschied mag nahe sein. Aber er kann noch warten.

Hier der Link zum Online-Artikel: Wieso Betagte sich in Tenna so wohl fühlen