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Wir brauchen alle einen Grund aufzuwachen. Ich brauchte dafür nur 11’000 Volt. Ich weiß, Sie sind zu höflich zu fragen, also erzähle ich weiter. 

Es war eine Nacht in meinem 2. Studienjahr. Es war Herbst. Ein paar Freunde und ich alberten herum und wir beschlossen, auf einen geparkten Eisenbahnwagen zu klettern. Er stand einfach da, mit seinen Oberleitungen. Irgendwie erschien uns das damals als gute Idee. Wir hatten schon Dümmeres gemacht. Ich huschte die hintere Leiter hoch, und als ich aufstand, schoss der elektrische Strom in meinen Arm, schoss runter und raus aus meinen Füßen, und das war’s. Sie werden’s nicht glauben: die Uhr funktioniert noch. Hält was aus! 

Mein Vater trägt sie jetzt, aus Verbundenheit. 

Ab dieser Nacht begann meine offizielle Beziehung mit dem Tod, mit meinem Tod, und meine lange Laufbahn als Patient. Ein gutes Wort. Es bedeutet “einer, der leidet”. Ich schätze, wir sind alle Patienten. 

Das amerikanische Gesundheitssystem hat eine gewaltige Menge an Problemen — und sicher auch seine gute Seiten … Ich bin jetzt Arzt, spezialisiert auf Hospiz- und Palliativmedizin. Ich habe Pflege von beiden Seiten erlebt. Und glauben Sie mir: Fast alle, die im Gesundheitswesen tätig werden, haben gute Absichten — ehrliche Absichten. Aber wir, die darin arbeiten, sind ungewollt auch Vertreter eines Systems, dass Patienten zu oft im Stich lässt. 

Warum? Es gibt sogar eine recht einfache Antwort auf diese Frage und sie erklärt einiges: Das Gesundheitswesen wurde konzipiert mit Krankheiten, nicht Menschen, im Mittelpunkt. Das heißt, natürlich, dass es schlecht konzipiert wurde. Und nirgendwo sind die Auswirkungen schlechter Konzepte so herzzerreißend und die Chance für gute Konzepte ist so überwältigend, wie am Ende des Lebens, wo alles so klar und konzentriert ist. Da gibt es keine zweiten Versuche.

Meine Absicht heute ist, mich übergreifend an alle Wissenszweige zu wenden, und zu einem großen Gespräch über die Gestaltung neuer Konzepte einzuladen, das bedeutet, Gestaltungswillen und Kreativität in das Erlebnis des Sterbens einzubringen. Vor uns liegt eine riesige Chance. Wir stehen vor einer der wenigen universellen Herausforderungen, sowohl als Einzelpersonen als auch als Zivilgesellschaft: dass wir umdenken und neu gestalten, wie das mit unserem Sterben ist.

Also lasst uns am Ende anfangen. Für die meisten ist das Schrecklichste am Tod nicht, tot zu sein — es ist das Sterben, das Leiden. Ein wichtiger Unterschied. Um das besser zu verstehen, ist es hilfreich zu unterscheiden zwischen dem Leiden, das wirklich notwendig ist, und dem Leiden, das wir ändern können. Ersteres ist ein natürlicher, wichtiger Teil des Lebens, der Preis des Lebens. Für diesen Teil müssen wir Raum lassen, müssen uns anpassen, damit wachsen. Es kann eine wirklich gute Sache sein, Kräfte zu erkennen, die größer sind als wir selbst. Sie helfen Dinge einzuordnen, in den gesamten Kosmos. Als ich meine Gliedmaßen verloren hatte, wurde dieser Verlust eine Tatsache, feststehend, ein notwendiger Teil meines Lebens. Ich lernte, dass ich diese Tatsache ebenso wenig ablehnen kann, wie mich selbst. Es dauerte eine Weile, aber schließlich lernte ich es. Großartig in Bezug auf notwendiges Leiden ist, dass es genau das ist, was Patient und Pfleger verbindet — beides menschliche Wesen. Wir erkennen schließlich: Genau hier geschieht Heilung. Ja, Mitleid — ganz wörtlich, wie wir gestern hörten — zusammen leiden. 

Aber andererseits ist auf der Seite des Systems so viel Leiden unnötig hausgemacht. Es dient keinem guten Zweck. Aber die gute Nachricht ist: Da diese Art Leiden hausgemacht ist, können wir daran etwas ändern. Darauf wie wir sterben, haben wir tatsächlich Einfluss. Das System zu sensibilisieren für diesen grundlegenden Unterschied zwischen notwendigem und unnötigem Leiden, ist die Grundlage für drei erste Ideen für Gestaltungsprinzipien. Schließlich sollen wir als Pflegende, als Menschen, die sich kümmern wollen, Leiden mildern und nicht zusätzliche Belastungen schaffen — 

ein Grundsatz jeder Palliativmedizin. Ich sage das als moralischer Unterstützer, genauso wie als behandelnder Arzt. Kurze Anmerkung: Bei Palliativmedizin — wichtig, aber oft missverstanden — geht es auch, aber nicht nur, um die Pflege am Ende des Lebens. Es geht nicht nur um Hospize. Es geht um Wohlfühlen und gutes Leben in jeder Phase. Sie müssen also nicht kurz vorm Tod stehen, um Palliativmedizin zu genießen. 

Ich möchte Ihnen nun Frank vorstellen — als gutes Beispiel dafür. Ich behandle Frank seit mehreren Jahren. Er hat fortgeschrittenen Prostata-Krebs und ist seit langem HIV-positiv. Ich behandle seine Knochenschmerzen und Erschöpfung, aber meistens denken wir zusammen laut über sein Leben nach — über unsere Leben. So kann Frank trauern. So kann er Schritt halten mit den Verlusten, die ständig auf ihn zukommen, so dass er für den nächsten Augenblick bereit ist. Verlust ist eine Sache, aber Bedauern noch etwas anderes. Frank war immer ein Abenteurer. Er sieht aus wie auf einem Bild von Norman Rockwell — und ist kein Fan von Bedauern. Also war nicht überraschend, als er eines Tages ankam und sagte: “Ich will mit dem Floß den Colorado River runter.” War das eine gute Idee? Mit all den Risiken und seiner Gesundheit würden viele sagen: Nein. Sagten sie auch, aber er machte es, als er noch konnte. Es war ein toller, wundervoller Ausflug. Eiskaltes Wasser, glühende Hitze, Skorpione, Schlangen, wilde Tiere und ihr Geheul vor der Kulisse des Grand Canyon, die großartige Seite der Welt jenseits unserer Kontrolle. Franks Entscheidung war wohl dramatisch, ist aber genau das, was viele machen würden, wenn wir Hilfe dabei hätten rauszukriegen, was für uns jeweils das Beste ist.

Vieles, über das wir jetzt reden, ist eine Verschiebung der Perspektive. Nach meinem Unfall ging ich zurück auf die Uni und fing mit Kunstgeschichte an Ich dachte, bei visueller Kunst würde ich etwas über das Sehen lernen — eine wichtige Lektion für einen Typen, der nicht so viel ändern konnte von dem, was er sah. Perspektive, diese Art von Alchemie, mit der wir Menschen spielen dürfen, die Angst in eine Blume verwandeln kann.

Jetzt arbeite ich an einem tollen Ort in San Francisco namens “Zen Hospiz Projekt”. Dort haben wir ein kleines Ritual, das bei einer Perspektivenverschiebung hilft. Wenn einer unserer Bewohner stirbt, kommen die Bestatter, und während wir den Leichnam durch den Garten schieben, machen wir eine Pause kurz vor dem Tor. Jeder, der das möchte, Mitbewohner, Familie, Pfleger, Eherenamtliche, auch die Bestatter können eine Geschichte, ein Lied oder Schweigen beisteuern, während wir den Leichnam mit Blüten bestreuen. Es dauert nur ein paar Minuten. Es ist ein schönes, einfaches Bild, um die Trauer voller Wärme einzulassen, eher als die Abscheu. Halten wir dagegen das typische Erlebnis in einem Krankenhausumfeld. Etwa so: Ein Raum mit Neonlicht voller Schläuche und piepender Maschinen und blinkende Lichter, die weiterblinken, selbst wenn der Patient stirbt. Reinigungskräfte stürmen rein, der Leichnam soll schnell raus, und es fühlt sich an, als ob die Person nie existiert hat. Dient natürlich einem guten Zweck, der Keimfreiheit. Aber Krankenhäuser greifen all unsere Sinne an, bestenfalls können wir dort nur noch auf Betäubung hoffen. Anästhesie — buchstäblich das Gegenteil von Ästhetik. Krankenhäuser können eine Menge erreichen; deshalb bin ich noch am Leben. Aber wir verlangen zuviel von Krankenhäusern. Sie sind richtig für akute Verletzungen und behandelbare Krankheiten. Sie sind keine Orte zu wohnen und sterben. Dafür sind sie nicht konzipiert worden.

Wohlgemerkt — ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass unsere Einrichtungen menschlicher werden können. Schönheit kann überall gefunden werden. Während eines Aufenthalts auf einer Verbrennungsstation im St.Barnabas-Hospital in Livingston, New Jersey, wurde ich wirklich immer optimal gepflegt, einschließlich guter Schmerzbehandlung. Eines Nachts fing es draußen an zu schneien. Die Krankenschwestern beschwerten sich über die üblen Straßenverhältnisse. Und in meinem Zimmer gab es kein Fenster. Aber es war toll sich vorzustellen, wie der Schnee langsam fiel. Am nächsten Tag schmuggelte eine Pflegerin einen Schneeball für mich ein. Sie brachte ihn an mein Bett. Mit unvorstellbarem Entzücken hielt ich ihn in meiner Hand und die Kälte drang in meine brennende Haut. Es war wie ein Wunder — die Faszination, als ich zusah, wie er schmolz und sich in Wasser verwandelte. In diesem Moment war es wichtiger für mich, ein Teil dieses Planeten in diesem Universum zu sein, als die Frage, ob ich leben oder sterben würde. Dieser kleine Schneeball enthielt die Inspiration, die ich brauchte, um sowohl leben zu wollen, als auch den Tod akzeptieren zu können. Im Krankenhaus ist so etwas ein gestohlener Augenblick.

In meiner Arbeit habe ich viele Menschen kennnengelernt, die bereit waren zu gehen, zu sterben, nicht weil sie einen endgültigen Frieden oder Transzendenz gefunden hatten, aber weil sie so einen Abscheu hatten vor dem, was aus ihrem Leben geworden war — isoliert, hässlich … Eine Rekordzahl an Menschen lebt mit chronischen und tödlichen Krankheiten, und wird dabei immer älter. Wir sind absolut unvorbereitet für diesen “Silber-Tsunami”. Wir brauchen eine Infrastruktur, die dynamisch genug ist, diese erdrutschartigen Änderungen in der Bevölkerung zu verkraften. Jetzt ist die Zeit, etwas Neues, etwas Lebenswichtiges zu schaffen. Wir können das, weil wir es müssen. Die Alternative ist einfach unannehmbar. Und wir kennen die wichtigsten Zutaten: Strategie, Bildung, Schulungen, Systeme und ihre Umsetzung in die Praxis. Wir haben jede Menge Input für Designer jeglicher Art.

Wir wissen z. B. aus der Forschung, was am wichtigsten für Menschen ist, die dem Tod näher sind: Sie wollen sich wohl fühlen und unbeschwert und wollen ihren Liebsten keine Last sein; existentiellen Frieden und ein Gefühl von Staunen und Spiritualität.

In den fast 30 Jahren im Zen-Hospiz haben wir von unseren Bewohnern noch vieles mehr im Detail gelernt. Kleine Dinge sind gar nicht so klein. Zum Beispiel Janette. Sie hat ALS, und es fällt ihr jeden Tag schwerer zu atmen. Und man glaubt es kaum — aber sie will wieder anfangen zu rauchen, ausgerechnet französische Zigaretten — nicht aus selbstzerstörerischer Neigung, aber sie will das Gefühl haben, dass ihre Lungen gefüllt sind, während sie die noch hat. Prioritäten ändern sich. Oder Kate — sie braucht nur die Gewissheit, dass ihr Hund Austin am Fußende ihres Betts liegt — seine kalte Schnauze an ihrer trockenen Haut, Anstatt noch mehr Chemo, die durch ihre Adern strömt — das hat sie hinter sich. Sinnliche, ästhetische Bereicherung, die uns jede Minute, jeden Moment dafür belohnt, dass wir einfach sind. Oft geht es nur darum, dass wir unsere Lebenszeit lieben, über die Sinne, über den Körper, der ja genau das ist, was lebt und was stirbt.

Wohl der wichtigste Raum im Zen-Hospiz ist unsere Küche. Das erscheint merkwürdig, wenn man bedenkt, dass soviele unserer Bewohner nur wenig oder gar nichts essen können. Aber wir wissen, dass wir Nahrung auf mehreren Ebenen anbieten: Geruch, eine symbolische Ebene. Ja, trotz all der richtig harten Sachen, die bei uns passieren, ist eines der am besten bewährten Maßnahmen bei uns: Guetzli backen. Solange wir unsere Sinne haben — und wenn es nur einer ist — haben wir zumindest die Möglichkeit, den Zugriff auf das, was uns menschlich macht, was uns verbindet. Stellen Sie sich die Folgen dieser Vorstellung für Millionen Menschen, die mit Demenz leben und daran sterben. Ursprüngliche Sinnesfreuden, die die Dinge “sagen”, wofür wir keine Worte haben, Impulse, die uns in der Gegenwart halten, ohne die Notwendigkeit von Vergangenheit oder Zukunft.

Die erste Grundidee war also, unnötiges Leiden aus dem System zu verbannen. Die Würde zu unterstützen, über die Sinne, über den Körper — der Bereich des Ästhetischen — das wäre das zweite Grundprinzip. Damit kommen wir unmittelbar zum dritten und für heute letzten Grundprinzip: Nämlich so anspruchsvoll zu werden, dass es uns um Wohlbehagen geht, so dass es bei Leben, Gesundheit und dem Gesundheitswesen darum geht, das Leben wunderbarer zu machen und nicht nur weniger schrecklich. Wohltätigkeit.

Hier geht es genau um den Unterschied zwischen einem Krankheits-zentrierten und einem Patienten-zentrierten Pflegekonzept. Und damit wird Pflege zu einer kreativen, produktiven, ja sogar spielerischen Tätigkeit. “Spiel” klingt hier etwas komisch. Aber es ist eine unserer höchsten Formen von Anpassung. Betrachten wir mal alle größeren menschlichen Bedürfnisse: Das Bedürfnis nach Essen hat die Kochkunst geschaffen. Das Bedürfnis nach Schutz hat die Architektur geschaffen. Das Bedürfnis nach Bedecken: die Mode. Und weil wir dem Ticken der Zeit unterworfen sind, haben wir die Musik erfunden. Da Sterben ein notwendiger Teil des Lebens ist — was können wir daraus erschaffen? “Spiel” heißt nicht, dass wir Sterben auf die leichte Schulter nehmen, oder dass wir eine bestimmte Art des Sterbens anpreisen. Es gibt unverrückbare Berge des Kummers. Auf die eine oder andere Art werden wir alle vor ihnen knien. Ich fordere nur, dass wir Raum lassen — physischen wie geistigen Raum –, in dem sich das Leben bis zum Ende entfalten kann, so dass wir Altern und Sterben nicht aus dem Weg schieben, sondern sie zu Prozessen werden lassen, die sich bis zum Ende steigern. Das Problem “Tod” können wir nicht lösen. Ich weiß, einige von Ihnen arbeiten daran.

Wir können dementsprechend gestalten. Teile von mir starben schon, und das gilt für uns alle, mehr oder weniger. Ich musste mein Leben entsprechend umgestalten, und es war eine wirkliche Befreiung zu erkennen: Man kann immer wieder Schönheit oder Bedeutung finden in genau dem Leben, das man noch hat, wie der Schneeball, einen perfekten Moment lang, während er die ganze Zeit weiter schmolz. Wenn wir solche Augenblicke leidenschaftlich lieben, dann können wir vielleicht lernen, gut zu leben — nicht ungeachtet des Todes, sondern wegen ihm. Es soll der Tod sein, der uns fortnimmt, nicht der Mangel an Fantasie.