Mit grosser Freude und Erleichterung lege ich als Vorstand des Vereins Tenna Hospiz den sechsten Jahresbericht vor. Freude, auch als sorgender Mitbewohner über das erste komplette Betriebsjahr der Wohngemeinschaft Alte Sennerei zu berichten; Erleichterung darüber, dass sich die vereinsinterne Situation entspannt und beruhigt hat.
Genauso wie wir in der “Alten Sennerei” jeden Tag als einen speziellen Tag erleben dürfen, war auch das Jahr 2022 ein spezielles. Die globalen Umstände wechselten von Pandemie auf Krieg – etwas, das stimmungsmässig einen Einfluss hat auf das Zusammenleben – etwas, das jedoch vor allem in der Mittelbeschaffung und in der materiellen Logistik spürbar wurde. Zum Glück waren die Bauarbeiten vor Kriegsbeginn abgeschlossen – die Schlussrechnung ergab eine Investition von CHF 3.898 Mio (mit 3% Kostenüberschreitung). Kleinere Anschaffungen und Anpassungen am Neubau waren seither dennoch möglich. Der Fortschritt der Mittelbeschaffung, am Jahresende bei 98% der Investitionskosten angelangt, hatte am Tag des Kriegsbeginns einen weiteren Totaleinbruch erlitten. Die Spendenbereitschaft hat sich seither erholt und muss vom Verein weiter gepflegt werden.
Innerhalb des Kalenderjahres wandelte sich die Wohngemeinschaft mehr als einmal. Abraham, Ursula und ich bildeten im letzten Winter den Kern – dazu kamen mehrere Menschen, die zeitlich begrenzte Aufenthalte zur Erholung und Entlastung in der WG geniessen konnten. Im April hiessen wir Gian und Erica willkommen. Erst als Ferienaufenthalt geplant, verlegten sie nach kurzer Zeit ihren Wohnsitz vom Jura nach Tenna.
Mitte Juli kam dann der emotional bisher intensivste Tag im Leben der Wohngemeinschaft: Wir feierten gleichzeitig den 80. Geburtstag von Ursula und nahmen Abschied von Erica, die unerwartet am Vorabend gestorben war. Von diesem Moment an brauchten wir nicht nur hohe Kompetenz in guter Betreuung und Palliative Care, sondern auch in Trauerarbeit.
Bild 2: Erica anlässlich des Picnics zur Gnadenhochzeit von Gian und Erica.
Im Verlaufe des Jahres berührten uns weitere Trauerfälle. Hermann Dorner, ein Gönnermitglied des Vereins, ist entschlafen und wurde in Tenna beigesetzt. Er hatte sich 95-jährig einen Platz im Tenna Hospiz reservieren lassen, doch es war ihm vergönnt im eigenen Zuhause in Arosa zu sterben. Das Sozialraum Café bot den Rahmen für die Beisetzung im Familienkreis.
Marcus, der im Winter für zwei Wochen zur Entlastung in der “Alten Sennerei” mitlebte, mitlief und mitgesungen hatte, ist im Herbst zuhause verstorben.
Im Herbst begleiteten wir einen Bauern von Tenna. Seine Kräfte wurden zunehmend durch Krankheit geschwächt. Er kam in die “Alte Sennerei” für Kaffee, Kuchen, Vitalzeichen und begleitetes Spazieren. Später unterstützten wir die Familie, seinen Wohnort so einzurichten, dass eine Pflege zuhause möglich blieb. Johann folgte mit grosser Freude der Einladung zum Gedenksonntag im Tenna Hospiz. Es wurde sein letzter Ausflug.
Kurz danach löste einer unserer Unterstützer einen Gutschein ein, den er anlässlich der Baustellenbesichtigung im Oktober 2020 erhielt. Damals war der Aufzug nicht im Betrieb, so dass mobilitätsbeeinträchtigte Besucher auf die Besichtigung der oberen Stockwerk verzichten mussten. Für Hugo Bohny war es ein grosses Bedürfnis, das vollendete Bauwerk und die Gastfreundschaft der WG erleben zu können. Zwei Wochen vor seinem Tod kam die Reise zustande!
Zur guten Trauerarbeit gehört auch eine gesunde Erinnerungskultur. Diese versuchen wir in den gelebten Alltag zu integrieren.
Der Höhepunkt des Vereinsjahrs 2022 war wiederum das Fest zum Welt-Hospiz-Tag am 8. Oktober. Die geladenen Unterstützer*innen aus nah und fern genossen die herzhafte Suppe mit Brot in der grossen Stube und auf der Terrasse. Sie freuten sich am Gespräch mit dem Palliativmediziner Roland Kunz, einem Pionier der Hospizarbeit in der Schweiz. Der Tag bot auch viel Gelegenheit für intensiven Austausch zwischen Mitbewohnern, Angehörigen und Unterstützer*innen. Im Gespräch bezeugen die Menschen, die das Experiment leben, die Wirkung dieses innovativen Modells der guten Betreuung im letzten Lebensabschnitt.
Bild 3: Dr. Roland Kunz im angeregten Gespräch unter den Gästen zum Welt-Hospiz-Tag.
Anfang November luden wir dann die einheimische Bevölkerung und die Angehörigen ein zu einem Gedenksonntag. So konnten wir gemeinsam Abschied nehmen von den verschiedenen Menschen, die im Umkreis des Projektes verstorben sind. Umrahmt wurde das gemeinsame Essen mit Beiträgen von Robert Grossmann auf der Renaissance Laute und einer Lesung und Geschichten von Franz Hohler. Das Tenner ad-hoc Chörli, in dem auch Mitbewohnende mitsingen, hat einige Lieder beigetragen.
Der noch rudimentäre Sozialraum Alte Sennerei hat im laufenden Jahr weiter Wirkung entfalten können. Regelmässige Erzählcafés mit der Pfarrerin, Jassrunden, und Café Betrieb wurden ergänzt durch einen Mittagstisch für Schüler*innen der Gesamtschule Tenna und durch Fusspflege für die Bevölkerung. Die Angebote werden geschätzt, was uns die Kraft gibt, weitere Aktivitäten zu planen.
Bild 4: Franz Hohler im Austausch mit einheimischen Gästen anlässlich des Gedenksonntags
Die Mitglieder des Vereins, aber auch Freunde des Projektes, leisteten auch im Jahr 2022 wertvolle Eigenleistungen im Ehrenamt. Damit können die Verwaltungskosten für den gemeinnützigen Verein sehr niedrig gehalten werden. Genauso profitiert der Betrieb der Wohngemeinschaft von Einsätzen von Freiwilligen und Angehörigen. Ich möchte allen, die ihre Kräfte und Talente ohne Entgelt für die wertvolle Vereinsarbeit und bei der Umsetzung des Projektes zur Verfügung gestellt haben, herzlich danken.
Dieses Jahr konnte der Betrieb der Wohngemeinschaft auch zwei Praktikantinnen eine vielseitige Praktikumserfahrung ermöglichen. Selina studiert Pflege an der Fachhochschule in Bern und hat uns während sechs Wochen im Spätsommer unterstützt. Im Herbst kam Sigrid im Rahmen der Ausbildung zur Pflegehelferin des SRK Graubünden für drei Wochen nach Tenna. Beide Praktikantinnen lebten mit der Wohngemeinschaft und erhielten so einen Eindruck der Innovationskraft dieses Projektes und hoffentlich Inspiration für ihre Tätigkeit im Gesundheitswesen und in der guten Betreuung.
Der Mitgliederbestand des Vereins änderte sich 2022. An der Generalversammlung vollzogen Daniel und Anne Casutt mit einer bedauernswerten Inszenierung ihren Austritt aus dem Verein. Zuvor versuchten wir während sechs Monaten mit Hilfe intensiver externer Begleitung ihre Anliegen zu ergründen. Seit Sommer 2021 verunmöglichten Daniel und Anne die Vereinsarbeit und eine sachbezogene Weiterführung der Geschäfte am Übergang von der Bau- zur Betriebsphase. Seit der Generalversammlung hat sich die Situation beruhigt und stabilisiert.
Tammo Schlüter ist neues Vorstandsmitglied. Der Vorstand hat sich noch nicht konstituiert. Mit Mirjam Giger und Vreni Gartmann gewannen wir zwei neue Gönnermitglieder. Die Vereinsbuchhaltung wird nun extern von Stefan Hartmann geführt und betreut.
Dank der umsichtigen Planung und dem bewussten Umgang mit den anvertrauten Mitteln war es dem Verein möglich – entgegen dem aktuellen globalen Trend – die Tarife für die pflegegerechten Wohneinheiten im kommenden Jahr zu senken. Der Betrieb der Wohngemeinschaft ist selbsttragend. Dank dem guten Betriebsverlauf erhielten die Mitbewohnenden im Dezember eine reduzierte Monatsrechnung.
Der Verein initiierte im Dezember 2016 eine Webpräsenz auf tennahospiz.ch. Die Webseite wird häufig aufgerufen (ca. 22’000 Seitenaufrufe im 2022). So informiert der Verein Tenna Hospiz 2022 das ganze Jahr hindurch aktiv und zeitnah über die Projektentwicklung und -umsetzung und lud zum aktiven Mitdenken und Handeln ein. Es kommen immer mehr Abonnenten unseres Newsletters dazu. Damit werden in unregelmässigem Abstand alle Interessierten über Ereignisse und Meilensteine des Vereins und der Wohngemeinschaft informiert.
Im März 2022 wurde das Modell der Wohngemeinschaft im letzten Lebensabschnitt erstmals in den nationalen Medien präsentiert. Das Fernsehen SRF hat einen stimmigen Beitrag in der Sendung “Schweiz aktuell” produziert und ausgestrahlt. Die Sendung hatte durchaus Resonanz entfaltet, erinnern sich doch immer wieder Café Gäste im Sozialraum an den Beitrag.
Das Institut für Altersforschung an der Ostschweizer Fachhochschule verfolgt die Projektentwicklung intensiv. Dieses wurde mit der Begleitforschung beauftragt und macht parallel dazu eine Projektevaluation im Auftrag der Age-Stiftung.
Als Verein sind wir mit weiteren nationalen Fachorganisationen und Initiativen vernetzt (z.B. Netzwerk Caring Communities).
Kurz vor Jahresende sind nun Suzette und Morris in die “Alte Sennerei” eingezogen. Suzette wird im ersten Halbjahr 2023 als sorgende Mitbewohnerin wirken. Morris wird in dieser Zeit die Gesamtschule Tenna stärken. So schloss sich das sechste Geschäftsjahr des Vereins Tenna Hospiz in einer Stimmung der Erleichterung und Zuversicht.
Ich spreche an dieser Stelle allen, die zum erfolgreichen ersten Betriebsjahr und dem Abschluss der Bauphase beigetragen haben, meinen aufrichtigen Dank aus. All dies gibt uns grosse Motivation frohen Mutes das zweite Jahr in offener Gemeinschaft zu leben.
Othmar F. Arnold,
Vorstand Verein Tenna Hospiz, Koordinator Wohngemeinschaft Alte Sennerei
Es ist sehr berührend, zu erfahren, wie Othmars Herzensanliegen Realität
geworden ist, Menschen miteinander verbindet und Potentiale entfaltet.
Die allerbesten Wünsche für die weitere Entwicklung,
Sieglinde
Danke, Sieglinde, für den wertschätzenden Kommentar. Mein Herzensanliegen ist in erster Linie, dass ich das lebe was ich glaube. Und dem sind wir im Projekt Tenna Hospiz näher gekommen!