„Sterben wollen soll man dürfen können. Meine Mutter wollte, durfte und konnte Ende Juli dieses Jahres. Ich war dabei. Bevor wir Geschwister sie in unserem alten Appenzeller Bauernhaus die Stiege hinuntertrugen, sagte der Bestatter, er könne für das Einsargen draussen vor dem Haus gerne für einen Sichtschutz Richtung Strasse sorgen. «Keinesfalls», antwortete mein Bruder, «bei uns darf man sterben.»
Ein stimmiger Rückblick auf das Leben seiner Mutter von Willi Näf (veröffentlicht in der bz – Zeitung für die Region Basel). Und ein guter Ausblick, was das Motto „Leben auf hohem Niveau – bis zuletzt – und in Frieden sterben dürfen“ bedeuten kann, welches sich der Verein Tenna Hospiz gegeben hat. Ob wir dereinst mit dem Sozialraum in der „Alten Sennerei“ auch solche Lebensgeschichten miterleben und weiter erzählen können? Die Menschen im Safiental sind doch genau so selbstbestimmt und einzigartig wie die Appenzeller.
„Meine Mutter hat an ihrer Abdankung ein paar Mal gelacht. Ich hab’s gehört. Die Kirche des höchsten Ausserrhoder Dorfes ist dem Himmel nämlich nah, und gelacht hat sie schon auf Erden gern. Sie hatte das sonnige und gesellige Gemüt ihres Vaters, eines Viehhändlers, der trotzdem gelegentlich im Suff seine Kinder abgeschwartet hat, und die Intelligenz ihrer Mutter, einer intellektuell unterforderten Bäuerin. Meine Mutter war genauso unterfordert wie unterbewertet, ausserdem interessiert, pflichtbewusst, engagiert, idealistisch, bockig, fromm bis ins Mark, ironiebegabt, schlagfertig und im Alter so liebenswürdig wie nervtötend schrullig.
Nach 84 Jahren voller Leben war ihr Körper müde vom Übergewicht und der jahrzehntelangen strengen Arbeit im Haus und auf dem Hèèmetli, zusammen mit Pa. Ihn hatten wir 2009 beerdigt. Als er im Jahr zuvor einmal auf der Intensivpflegestation des Kantonsspitals Herisau das Sterben geübt hatte, hatte ich ihn gefragt: «Pa, wenn du zurückblickst – was bleibt?» Er hatte kurz überlegt und dann geantwortet: «Vier gfreut Goofe, em säbe rächni vil. Und erzoge hät’s d’Muetter, säb isch wohr.»
Nach Pas Tod war Ma als Witwe zurückgeblieben und hatte ihr Bauernhaus weiter bis unter den Dachfirst vollgestopft mit Tausenden Briefen, Büchern, Magazinen und Zeitungsartikeln, die sie alle noch einmal lesen wollte, irgendwann. Sie hatte sich mit schwindenden Kräften die Stiege hinauf- und hinunter- und hinauf- und hinuntergekämpft und im Winter Brennholz geschleppt. Im Frühling 2012 bemerkte ich gegenüber meiner Lieblingsschwester Ros, es sei wohl Mutters letzter Winter im Haus gewesen. Das sagte ich noch weitere drei Frühlinge, danach hielt ich die Klappe.
Ma war stur, stolz und zäh. Immerhin akzeptierte sie irgendwann grosszügig den Notfallknopf an ihrem Handgelenk, «damit ihr euch sicherer fühlt». Tante Margrit fand sie einmal auf im Schlafzimmer auf einem Stuhl sitzend, mit Tränen in den Augen: «Mini Goofe mänets eso guet mit mer.» Sie hatte ein irrsinniges Grund- und Gottvertrauen. Und sie war eine begnadete Organisatorin: Die kräftezehrenderen Handreichungen im Haushalt wusste sie clever abzustimmen mit den häufigen Besuchen ihrer Sippe und ihrer vielen Freundinnen. Sie sahen es ihr nach. Ich war der Einzige, der über die Handreichungen schimpfte, sodass sie mich mit Lindorkugeln bestechen musste.
Überleben wollen
Organisatorisch war Ma aufs «à dieu» vorbereitet. Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag, Generalvollmacht, Anmeldung im Altersheim: alles da. «Ist der Leidensdruck noch nicht gross genug für eine Züglete?», fragte ich Ma alle paar Monate, und sie antwortete: «Es ist häufig ein Chrampf, aber wenn ich am Morgen aus dem Fenster blicke und drüben am Ettenberg geht die Sonne so schön auf…» In den letzten drei, vier Jahren antwortete sie auch: «Nein, aber wenn der Tod käme, ich würde ihn nehmen.» Als ich ihr einmal erzählte, jemand hätte mich nach ihrem Befinden gefragt, wollte sie wissen, was ich geantwortet hätte. «Ich habe gesagt, dass du dich mit letzter Kraft durchstrampelst», erwiderte ich. Ma nickte: «Mmh, das trifft’s.»
Sterbehilfe kam für Ma nicht in Frage. Dafür war sie zu fromm. Aber sie war dann doch pragmatisch genug, mit Tragtaschen voller Medikamente dem lieben Gott ins Handwerk zu pfuschen– den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten und das Schrumpfen ihrer Autonomie abzubremsen, schien ihr legitim. Was macht man nicht alles, wenn man gerne lebt. Dass ihr geplagter Körper sein Ablaufdatum längst überschritten hatte, wusste Ma selber am besten, und am Schluss hätte sie auch für ihren Geist nur noch den halben Preis bezahlt. Es hinderte sie aber nicht daran, mich beim Rummikub jedes zweite Mal zu schlagen.
Alle paar Wochen fing Ma ein neues Tagebuch an, weil sie das alte nicht mehr fand. «Heute kam Margrit», notierte sie dann. «Wir hatten es gut. Wir beteten wegen dem Coronavirus. De Loft pfiift oms Hus ome wie verrockt.» Sie sass oft am Küchentisch, einen Notizblock vor sich, um sofort alles aufschreiben zu können, was ihr in den Sinn kam: «Öfeli nie auf Stufe 2 herauf schalten, sonst nimmts die Sicherung wegen Überlastung.» In den letzten Lebensmonaten standen dann «Durchblutungsstörung», «Teigwaren» und «Lebenslauf schreiben» auf demselben Zettel. Die Zettel deponierte sie irgendwo, wo sie sie wiederfinden würde, ganz sicher. Beim Hausräumen stiessen wir auf unzählige solche Zettel, angefangene Blöcke und Tagebücher an allen möglichen und unmöglichen Orten. Zehn Tage vor ihrem Tod fragte ich Ma: «Was macht es mit einem, wenn man merkt, dass man dement wird? Wird man hässig, wird man traurig?». Sie antwortete erst nach längerem Nachdenken: «Das Schlimmste ist die Machtlosigkeit.»
Anfangs mag man grimmig lachen, wenn man zehn Minuten lang wütend auf der TV-Fernsteuerung herumdrückt und dann merkt, dass es jene für den CD-Player war. Spätestens bei der eingeschalteten und vergessenen Herdplatte lacht man nicht mehr. Auch der Nachwuchs lacht nicht mehr, sondern beisst sich auf die Lippen und zapft maximales Grund- und Gottvertrauen an. Der Stamm der Appenzeller zeichnet sich aus durch ein hohes Autonomiebedürfnis. Dem zollt man Respekt bis zur Schmerzgrenze, obwohl man weiss, dass ein natürliches und überraschendes Ende ziemlich rustikal sein kann.
Sterben wollen
Anfang Juli übersteht Ma eine Nacht mit heftiger Atemnot. Mein Bruder, Pflegeexperte Palliative Care mit dem passenden Namen Ernst, brettert ins Appenzellerland und bringt sie ins Spital. Sie hat Wasser auf der Lunge und das Herz ist überfordert. Meine Schwester Ros, Pflegefachfrau und wie ihre Mutter zeitlebens betroffen von chronischem Optimismus, holt sie ab und bringt sie zu sich nach Hause ins Emmental, «um zu schauen, wie es dir gefällt». Es gefällt ihr gut, aber die Sonne über dem Emmental ist nicht dieselbe wie die über dem Ettenberg und so plant sie, im Rollstuhl sitzend und mit der Sauerstoffflasche in Schlauchweite, ihre Rückkehr ins Bauernhaus. Und der Nachwuchs brütet: Wie sag ichs meiner Mutter?
Mutters grenzenlose Müdigkeit und Immobilität tun dann aber doch ihre Wirkung. Nach zehn Tagen fahren wir ins Emmental und halten auf dem Balkon eine sonntägliche Familienkonferenz. Zur Wahl stehen Tochter, Pflegeheim oder Sterben. Vor Jahren schon hat sie es in ihrer Patientenverfügung niedergeschrieben: «Wenn es mir gesundheitlich so schlecht geht, dass absehbar ist, dass ich evtl. nicht mehr in mein Bauernhaus zurückkehren kann, lehne ich lebensverlängernde Medikamente ab. Zum Beispiel Antibiotika. Ich nehme eine Verkürzung des Lebens in Kauf.» Und nun, an diesem Sonntag auf dem Balkon, sagt Ma, was sie in den letzten zwei Jahren öfter gesagt hat: «Ich würde gerne sterben.»
Das Sterben planen
Unter der klugen Leitung meines grossen Bruders stellen wir einen Sterbefahrplan auf: Ma wird noch eine Woche lang bei Ros im Emmental bleiben. Ernst und Ros klären alle Fragen mit Hausarzt und Spitex und organisieren Pflegebett, Rezepte für Medikamente wie Morphium und was sonst noch dazugehört. Dann bringt Ros Ma zurück, nach Hause. Dort setzt sie das wasserauslösende Medikament ab und wartet betreut von Ernst und Ros aufs Sterben. Das Hübsche an der Sache ist, dass ihre Rückkehr genau auf unsere beliebte jährliche Sippenwoche fällt, in der ohnehin alle vier Kinder und die meisten Kindeskinder im Appenzellerland sind. «Eigentlich würde sicher jeder Mensch gern auf diese Weise sterben», bemerkt Ma. «Aber die Sippenwoche will ich dann schon noch bis zum Schluss miterleben.» «So schnell wird es wohl nicht gehen», vermutet Ernst, «und sonst können wir das Medikament wieder einsetzen.» Ma ist zufrieden und bittet ihn, ihr das soeben Besprochene aufzuschreiben, «sonst vergesse ich es grad wieder». Ihrer demenziellen Entwicklung ein Schnippchen zu schlagen, hat sie immer noch drauf. «Danke für dein Vertrauen, Ma», sage ich, «das berührt uns.» Sie nickt und richtet sich den Sauerstoffschlauch: «Ihr seid ja auch vertrauenswürdig.»
Am Abend erzählt Ros ihren zwei Jüngeren auf kindgerechte Weise, was das Grosi beschlossen hat. Die elfjährige Emily weint, und Grosi erklärt ihr feinfühlig, dass sie sehr froh sei über diese Lösung, dass sie lebenssatt sei und sich auf Grossvater freue. «Diese Woche wollen wir Grosi noch einmal richtig verwöhnen», schliesst Ros ab, «Morgen gibt’s Gipfeli und Znacht Ofenfleischkäse.» Die pragmatische Aufmunterung richtet sie auch an sich selber. Den Sterbewunsch der Mutter, die man gerne noch bei sich behalten hätte, gilt es, zu ertragen. «Ma ist ganz ruhig, zufrieden und bei sich», schreibt meine Schwester am Abend in den Familienchat. Der Chat läuft heiss, seit Wochen schon.
Aufleben
Die Sippenwoche gerät zur Abschiedswoche. Wir grillieren, wandern, spielen und geniessen unser diesjähriges Goodie, Michas kostenlose Tandemflüge am Gleitschirm von Ebenalp und Kronberg. Ernst und Ros bleiben daheim und überwachen Mas Wohlbefinden, ein halbes Dutzend Kinder und Kindeskinder in unterschiedlicher Besetzung agieren als Gastgeber für Ma und ihre Abschiedsbesuche. An manchen Tagen kommen sie in mehreren Schichten. Ma sitzt mit ihnen auf dem Sitzplatz, lässt Corona Corona bleiben, plaudert, trinkt Kaffee, gelegentlich singt sie mit dem Besuch. In jungen Jahren hat sie selber komponiert, zwei ihrer Jodellieder sind bis heute im Repertoire des Füürweerchörlis. Mit Enkelin Anisha wählt sie die Lieder aus, die sie an ihrer Abdankung mit andern Enkelkindern singen wird. Abends bleibt Ma bis um halb elf draussen bei der Sippe, und sie jagt vom ersten Gipfeli am Morgen bis zum letzten Stück Roulade am Abend hemmungslos in sich hinein, was sie mag. Sie mag viel.
Ja, man kann gleichzeitig traurig und fröhlich sein. Das Aufflackern einer Kerze erlebt man bewusster, wenn man weiss, dass sie danach erlöschen wird. Und wer will sich denn beschweren, es ist die Luxusvariante des Sterbens, von den vier Kindern sind zwei Pflegefachleute, einer ist Satiriker, einer ist Pfarrer, mehr braucht es nicht für einen gepflegten Tod. Vor einiger Zeit hatte Ma bemerkt, sie habe im letzten Jahr fast jeden Tag drei oder vier Seiten in meinem rabenschwarzen Roman gelesen und dabei immer wieder gelacht. Den Humor verliert sie bis zuletzt nicht. Als eine Besucherin Ma fragt, wie es ihr denn gehe, antwortet sie trocken: «Jo, wa söli säge. I de säbere Nacht bini äbe nüd gstorbe, ond etz läbi halt no.»
Ableben
Am Samstag und Sonntag reist ein Grossteil der Sippe ab, der Alltag ruft. Meine Jüngste verabschiedet sich von ihrer Grosi mit den Worten: «Seisch am Grossvater en liebe Gruess.» Ernst und Ros bleiben, ich muss für einen Tag nach Basel an ein Meeting und bin am Dienstag zurück. Der Körper von Ma sammelt bereits wieder Wasser. Ernst erhöht die Morphiumdosis, sodass Ma ohne Atemnot und ohne Angst davor schlafen kann. Er als Pflegeexperte Palliative Care weiss, wie man das Sterben möglichst schmerzfrei gestaltet.
Tagsüber bekommt Ma Besuche. Am Mittwochmorgen bringt Tante Anni Zucchetti und quirlige Heiterkeit. Ernst hält im Chat die Familie auf dem Laufenden. Mittwochabend, 18.39 Uhr: «Nach dem Mittagsschlaf, der länger dauerte, hatte Ma eine Dyspnoeattacke. Wir haben den Subkutankatheder eingelegt, um eine schnelle Wirkung von Mo und Dormicum zu erzielen. Ich musste Ma beruhigen, dass dies keine lebensverlängernde Massnahme sei. Sie ist nach wie vor dankbar und zufrieden, jetzt schläft sie.»
Als sie nach zwei Stunden wieder aufwacht, fragt sie nach, ob wir schon Znacht gegessen hätten. Ja, wir hatten. Bròthèrdépfeli. Und das ist nun ein Problem. Bròthèrdépfeli hat sie nämlich gern. Sie hat alles gern. Nun will sie auch noch Bròthèrdépfeli. Ernst erklärt ihr sanft, das würde nun wohl nicht mehr gehen, mit dem Schlucken sei es schwierig geworden und die Kraft hätte sie auch nicht mehr. «Momoll, morgen dann sicher wieder», antwortet sie.
Am Donnerstagmorgen schreibt Ernst um 7.46 Uhr in den Chat: «Ma brauchte in der Nacht mehr Medikamente, wir konnten die Situation gut im Griff behalten. Im Moment ist sie schmerzfrei. Ihr Zustand hat sich noch einmal verschlechtert.» Eine Stunde später: «Ma macht jetzt Atempausen.»
Zu dritt sitzen wir in ihrer Kammer. Der Vorhang dimmt die Sonne über dem Ettenberg auf ein sterbefreundliches Mass. Es ist ruhig. Ernst überwacht die Situation. Mutters Atempausen werden länger. Ros’ Hand ruht auf dem Arm der Sterbenden. «Gell Ma, jetzt darfst du gehen.» Ich überlege, ob ich den Raum fotografieren soll oder ob das voyeuristisch ist. Schliesslich zücke ich doch zwei, drei Mal diskret das Handy. Die Fotos könnten später vor allem Ros helfen, den Abschied besser zu verkraften, und ihr die Sicherheit zu geben, das Richtige getan zu haben, genug getan zu haben. In dieser Familie leiden nämlich alle an einer Überdosis Hilfsbereitschaft ausser mir.
Um 10.09 Uhr tut Ma einen schweren Atemzug. Ernst nickt fast unmerklich. Seit dem frühen Morgen habe ich auf meinem Handy als Bildschirmhintergrund ein schwarz-weisses Foto von Ma als Mädchen, mit langen Zöpfen und ganz viel Zukunft in den Augen. Nun mache ich ein Screenshot des Fotos mit der Tageszeit drauf und schicke ihn in den Chat. 10.09 Uhr also. Ros’ Hand ruht noch lange auf dem Arm von Ma und nimmt ihre letzte Körperwärme mit.
Weiterleben
In der Wand hinter dem Spiegel der Kommode steckt ein Balken, aus dem jemand vor hundert oder zweihundert Jahren ein Stück herausgesägt und wieder eingesetzt hat. Vielleicht ist es einer dieser Seelenbalken, wie sie in Bauernhäusern im Alpenraum bisweilen vorkommen. Seelenbalken und Seelenfenster öffnet man, wenn jemand im Bett stirbt, damit die Seele sich vom Acker machen kann. Mir hat sich nie erschlossen, warum den ansonsten eher bescheidenen Berglerseelen das Fenster nicht gut genug gewesen sein sollte. Ich öffne den Seelenbalken auch für Ma nicht. Es würde die Würde des Augenblicks zerstören. Ausserdem ist die Wand seit Ewigkeiten keine Aussenwand mehr, die Seele von Ma würde im Badezimmer landen, und das ist zurzeit nicht aufgeräumt. Überhaupt würde die Seele sich übers Südfenster Richtung Ettenberg davonmachen und schnöde ignorieren, dass es sie gemäss Wissenschaft gar nicht gibt. Auf des Irrtums neusten Stand war aus der Perspektive unserer Mutter sowieso kein Verlass. Und nüchtern betrachtet hat eine Seele gegenüber der Wissenschaft wohl auch keine Offenlegungspflicht, wo kämen wir denn da hin. Andererseits braucht man ja nicht, gleich an Gott zu glauben, um an Gott zu glauben. Bei mir glaubt’s manchmal was und manchmal nicht, oder zumindest nicht viel Gescheites. Am Sterbebett, so viel lässt sich in diesem Moment sagen, am Sterbebett glaubt’s was, ob ich will oder nicht.
Ros und Ernst fangen an, Ma herzurichten. Sie wollte unbedingt das blaue Nachthemd. Mir wird das zu profan und zu persönlich, ich verlasse die Kammer und mache mich in der Küche nützlich, Sterbebegleitung macht hungrig, Ernst war diese Nacht grossenteils wach. Vor ein paar Tagen habe ich Ma gefragt, was vom Leben bleibe, wenn man wisse, dass man sterbe. «Dankbarkeit», hat sie geantwortet, «und d’Goofe», und dann, druckreif: «Os däm, wo schwierig gsee isch, hani glernt, und säb wo schö gse isch, säb hani gnosse.»
Der Arzt macht seine Kontrolle fein und zügig, der Bestatter und seine Frau schlucken leer angesichts der engen Stiege, durch die kein Sarg passt. Mit Leintüchern klappt’s, die Trauerfamilie packt mit an. Der schwitzende Bestatter ist dankbar. Und nein, einen Sichtschutz vor dem Haus braucht es nicht. Bei uns darf man sterben.
Am Abend liegt Ma im Aufbahrungsraum. Ernst, Ros und ich sitzen an der Sonne beim Znacht, und Ros lacht auf: «Ouh Ma, etz essemer no dini Bròthèrdépfeli, gäll da isch scho chli fies.» Sie sagt es mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Die Beerdigung
Sieben Tage später beerdigen wir Ma. Werner predigt, Ernst und Ros lesen einen Liedtext von Ma, die Enkel singen und ich erzähle die Lebensgeschichte einer Frau, welche wie so viele Frauen ihrer Generation ihr Potenzial nicht mal annähernd ausschöpfen durfte. Vor fast zwanzig Jahren habe ich Ma und Pa eines Nachmittags an den Stubentisch zum Interview gebeten und mit dem Aufnahmegerät vor der Nase ihre Lebensgeschichten abgeschöpft. So was muss man machen, solange die Erinnerungen noch wach und die Gefühle noch wuchtig sind.
Zu guter Letzt trägt Ros die Urne zu Vaters Grab, ein Teil der Trauergemeinde geht mit. Zeitlebens hat Ma aus eher skurrilen Gründen für eine Erdbestattung plädiert, bis sie vor einigen Monaten erklärte, es sei ihr nicht mehr wichtig, sie würde einfach gern zu Pa ins Grab. Zum sogenannten Trauermahl bei Heidi im Rössli um vier Uhr gibt es Chäshörnli, Apfelmus und launige Gespräche. Die Raucher draussen bleiben nicht lange alleine, irgendwann sitzen alle an den langen Holztischen, die Jüngeren jassen, die Älteren schwatzen. Als die Letzten sich gut gelaunt auf den Heimweg machen, ist es kurz vor acht.
Der Tod meiner Mutter hat mich in meiner Arbeit um rund einen Monat zurückgeworfen. Aber ausnahmslos alle Auftraggeber haben Verständnis und finden es prima, dass wir unsere Mutter so begleiten konnten. Einer schreibt mir: «Mein Beileid, alter Cowboy. Meine Mutter liegt seit vier Jahren im Bett, im Rollstuhl sitzt sie nur noch selten. Sie kann kaum mehr sprechen und sie kennt mich nicht mehr. Ich besuche sie, spiele ihr das Munotglöggli und ‹blos e chlini Stadt› von Dieter Wiesmann vor und dann kullern ihr die Tränen hinunter. Scheisse. Ich wünschte ihr, dass sie gehen könnte. Was meint ihr Gott dazu, wo sie doch immer gebetet hat? Man fragt sich, wirklich.»
Das Sterben ist kein Honiglecken. Das Geborenwerden ist es wohl auch nicht, wenn man die zerquetschten Gesichter der Neuankömmlinge bedenkt. Aber für die Geburt gibt es Hebammen. Für das Sterben bräuchte es auch welche. Damit auch Menschen schön sterben können, denen nicht das Glück vergönnt ist, das nötige Fachpersonal in der Familie zu haben.
Seit dem Tod von Ma haben wir die Fotos von der Schlafkammer und von uns am offenen Sarg vor dem Haus oft betrachtet. Ein paar Mal hat Ros noch geweint. Jetzt lächelt sie. Ich habe nie geweint. Ich habe immer nur gedacht: Was für ein kolossal schöner Abgang von der Bühne des Lebens. Man kann nur Danke sagen. Egal wem.
Willi Näf, Bubendorf, ist Satiriker und Kolumnist bei der «Schweiz am Wochenende». Sein aktueller Roman heisst «Gesegnet sei das Zeitliche – Die endgültige Schweizer Nahtodkomödie». www.willinäf.ch