081 645 11 11 info@tennahospiz.ch

Es ist zum Davonlaufen. ’Tourismus’ oder ‘Entwicklung’ als Stichwort im Zusammenhang mit Oberengadin reicht, und der Blutdruck des hochaltrigen Gian Pedretti steigt signifikant. Er wird sich klar und pointiert dazu äussern: Die Urbanisierung der Landschaft und die damit verbundene Verdrängung des Verwurzelten und des Einmaligen – Lärchenbäume und Menschen inbegriffen. Festgehalten hat Gian in seinen Bildern in erster Linie die Bäume.

(Veröffentlicht am 23. Januar 2023 im Bündner Tagblatt)

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten. (aus: Stufen, Hermann Hesse, 1941)

Gian Pedretti hat nun bald ein Jahrhundert Geschichte seiner Heimat im Oberengadin erlebt und verfolgt. Vieles davon verfolgt ihn fast täglich. “Wenn ich heute durch Celerina gehe, dann komme ich einfach allen und allem in den Weg” – damit bezieht er sich nicht nur auf die Tatsache, dass er nun altershalber langsamer geht und einen Stock benutzt. “Hier kennt mich keiner mehr – passan speravi sainza salüder. Die Leute fahren dicke Wagen und haben es eilig. Viele Einheimische sind verdrängt – auch wegen der Spekulation.”

Sein Grossvater kam über den Malojapass hoch und etablierte eine Werkstatt. Die Kutschen der noblen Kurorte im Oberengadin mussten hohen Ansprüchen genügen. Die Familie fasste Fuss und wurde in Samedan heimisch. Die nächste Generation widmete sich wieder der Malerei, doch nun vor allem auf Leinwand und mit schöngeistigem Anspruch. Turo Pedretti bewegte sich in illustren Kreisen. Die Landschaft im Engadin war kraftvoll genug um auch die Segantinis und Giacomettis zu inspirieren, selbst in Zeiten, wenn diese in der Fremde wirkten.

Gian Pedretti wurde in der Fremde geboren. Anders ausgedrückt war diese Fremde die Heimat seiner Mutter… Seine Kindheits- und Jugenderlebnisse blieben jedoch alle mit einem idyllischen Bergdorf verbunden. In Samedan lebte die Familie ein bisschen oberhalb des Ortes. Man bewegte sich mit den Ziegen, war eingebettet in landwirtschaftliche Jahresrhythmen und Traditionen. Die Schule und die Kirche hatten auch ihre Jahreszyklen, waren streng und ihre Vertreter manchmal gewalttätig. Die Jungen im Dorf wehrten sich dagegen mit Streichen. Schellen-Ursli Geschichten aus einer weiten und lichterfüllten Bergwelt von damals.

Für Gian Pedretti, in einer Künstlerfamilie geboren, war es wichtig, etwas Bodenständiges zu lernen, ohne den Schöngeist zu lassen. Er entschied sich für eine Ausbildung als Silberschmied. Ein bedeutungsvoller Schritt während des Zweiten Weltkrieges, der ihn nach Zürich führte und der ihm die erste Begegnung mit Erika Schefter an der dortigen Kunstgewerbeschule bescherte. Das Handwerk selber war nicht mehr im Trend, denn der Adel und die Kirche verlegten ihre Vorlieben. Die erlernten handwerklichen Fähigkeiten und künstlerische Ideen setzte er dann mit anderen Materialien um. Auch ein krummer Nagel musste gehämmert werden um wieder nützlich zu werden. Entsprechende Formen tauchen in Gians früheren Bilder und Figuren auf.

Diese Gaben und das Improvisationstalent des angehenden Künstlers sind dann gefordert worden, als die ach so geliebte heimatliche Welt mit Lawinenkraft über das elterliche Haus und Atelier hinweggefegt ist. Die monatelangen Sucharbeiten nach den materiellen Überbleibseln des Familienbesitzes und des künstlerischen Werkes des Vaters haben Gian geprägt. Bruckstücke bleiben genau so stark in Erinnerung wie Verluste.

Wenn die weltliche Welt zu anstrengend und zu fordernd wurde, blieb den Pedrettis der Rückzug in den Wald und ins Gebirge. Interessanterweise brauchte es Jahrzehnte, bis dies – mit Ausnahme von Schädeln und Kadaver – auch in Gians Bildern regelmässigen Ausdruck findet. Das Val Bever und dessen hochalpine Umgebung wurden zum Inbegriff paradiesisch erscheinender “ewigen Jagdgründe”, ein Rückzugsort, in dem man sich sein und sich selbst genügen konnte – und in dem er sich bis heute zuhause und geborgen fühlt.

Nach der Katastrophe entstand in Celerina ein ganzer Cluster von Ateliers: für den Vater als Maler, den grossen Bruder als Bildhauer, Gian wie auch seine Frau Erica, die eigenständig einen Weg im Kunsthandwerk einschlägt. Beide haben den Verlust von Heimat hautnah erlebt. Sie, die Vertriebene aus Mähren, lebt sich in dieser Sippe des Oberengadins ein und lässt sich von Umfeld inspirieren. Gemeinsam suchten sie mit Kindern einen Weg vorwärts.

Ihre Suche nach Heimat wird sie später literarisch Verschriftlichen. Im Echo der Kritiker*innen ragt diese Suche heraus – und das Thema spricht ein grosses Publikum an. Dafür wird sie gebührend geehrt. Entwurzelung – als gesellschaftliches Thema einer modernen Zeit.

Die kontinuierliche Verstädterung des Oberengadins, vom Kurort zur alpinen Metropolis, bewegt Gian Pedretti dazu, sich mit der Familie für Jahrzehnte an den Ufern des Bielersees niederzulassen. “Ohne den Chasseral hätte ich es dort nie ausgehalten – dieser gab mir das Geborgenheitsgefühl der Berge” resümiert Gian. Er hat monatelang Nägel gerade gehämmert und ein verlassenes Haus in ein Zuhause verwandelt. Später kamen dann auch Ateliers für sich und für Erica dazu. Er haut nicht mehr Bilder, sondern malt diese – meist grossflächig und impulsiv; der Jura und die Seen erscheinen darin nie. Erica beginnt zusätzlich zur bildenden Kunst zu schreiben, immer auf der Suche nach etwas – nach dem Wesentlichen.

Die Familie fasst Wurzeln in La Neuveville, der Garten blüht, das Werk und die Netzwerke gedeihen. Von diesem neuen Ankerort aus kann Gian auch die weitere Welt erkunden. Südfrankreich zum Beispiel, wo sich viele Künstler von Weltruf inspirieren liessen; Tschechien und die verlorenen Welten Ericas; denn, der Wilde Westen lockte (im Sinne der unerfüllbaren Verheissung ganz sich selbst zu verwirklichen).

Im Alter wurde die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen stärker, bildlich ausgedrückt in einer kräftigen Serie von Sonnenuntergängen. Das Paar kehrte zurück ins Engadin. Persönliche Schicksale und Erinnerungen wurden zu prägenden Kräften. Erica zog sich langsam aus dem öffentlichen Leben zurück und fühlte sich dort wohl, wo Gian war. Er übernahm zunehmend Betreuungsaufgaben mit grosser Hingabe. Die Pinsel blieben trocken, die Kommentare bissig. Die Tundra-artigen Alpwiesen im Val Bever eigneten sich besser um die altersmüden Körper zu betten als die Lorbeeren. Der Ruhestand in seiner engeren Heimat brachte ihm nicht die gewünschte Ruhe.

Nach einem letzten Umzug setzte sich Erica in einen alten, vertrauten Sessel, blickte von der Dachwohnung im Tenna Hospiz in die umliegenden, aprilverschneiten Berge und sagte laut und deutlich “hier ist es schön” – wie wenn sie angekommen wäre an einem Ort, den sie lange suchte. Vom selben Sessel aus nahm sie einige Monate später mit leichtem Flügelschlag und einem Lächeln im Gesicht Abschied von dieser Welt.

Das heutige Leben in Tenna fühlt sich für Gian Pedretti manchmal an wie im Krimi. Auf einem Spaziergang durch das abgelegene Dorf hielt ein Geländewagen geräuschvoll aus voller Fahrt an, die Türen rissen auf. Eine Unbekannte kam direkt auf das betagte Paar auf der einspurigen Strasse zu. “Ahh, ihr seid die Neuen im Dorf. Willkomma!”

Gian Pedretti lebt weiterhin im Hospiz, eingebettet in Gemeinschaft. Im 97. Lebensjahr gelingt es dem Künstler erneut, mit zittrigen Händen und spitzem Bleistift, schöpferisch tätig zu werden. Er hält die Stimmungen in den fremden, aber heimatlich anfühlenden Weiten des engen Safientals fest. Eine der existenziellen Sehnsüchte scheint gestillt: Er wird ganz als einzigartiger Mensch wahrgenommen, mit all seinen Eigenheiten und Widersprüchen, mit allen Talenten und Beeinträchtigungen.

Damit findet Gian – als in sich ruhender Mensch – ein Stück einer ultimativen Heimat. Diese wird nie zur World Class Destination umgebaut werden. Nur er kann sie ganz für sich annehmen – oder davor fliehen.